Brücke aus Papier

MEMENTO MORI. Der folgende Brief an meinen verstorbenen Opa erzählt von Erinnerungen und einer Brücke aus Papier zwischen Dieseits und Jenseits. Er ist mein Beitrag zur kreativen Totenhemdblog-Challenge von Annegret Zander & Petra Schuseil.

Du warst ein Frühaufsteher, immer schon wach, wenn ich morgens an den gedeckten Tisch kam. Frisch rasiert, die weißen Haare ordentlich aus der hohen Stirn gekämmt. Manchmal mit einem kleinen Pflaster an Wange oder Kinn. Vor dir auf dem Platzgedeck eine leer gegessene Schüssel Quark und die Hälfte einer braun gesprenkelten Banane. Ich weiß nicht, was du dir ins Haar machtest oder ob es das Rasierwasser war, aber so sauber und gut hat seitdem niemand mehr gerochen. „Guten Morgen, guten Morgen, ohne Kummer, ohne Sorgen“, sagtest du und ich wurde ein bisschen ärgerlich, weil ich nicht auf Knopfdruck gut gelaunt sein wollte. Nach dem Frühstück verschwandest du im Garten, den du damals schon ökologisch bewirtschaftest. Es gab Salat, grüne Bohnen, süße Möhren und massenhaft Ringelblumen. Von den Johannisbeeren neben dem Haus naschte ich händeweise. Wenn es richtig heiß war, stieg ich nackt in das steinerne Becken mit dem Regenwasser, tastete mich über den glitschigen Boden und rettete Käfer und Fliegen vor dem Ertrinken. Oma schickte mich mit der Bitte nach Petersilie oder Schnittlauch zu dir und stolz brachte ich ihr das kleine Sträusschen in die Küche. Im Vorgarten stand ein alter Mirabellenbaum, dessen Früchte so lecker waren wie der Klang seines Namens. Und es gab Rosen, eine alte Sorte, blassgelb mit rosa Rand, die dufteten ebenso gut wie du.

Ich würde dich gern nach dem Zeichenheft fragen, dass ich an einem heißen, stillen Nachmittag in dem mit aussortierten Sachen vollgestopften Schrank im Giebelzimmer fand. War es von dir? Hast du gern gezeichnet? Ich weiß, dass du Bücher mochtest so wie ich. Im Wohnzimmer gab es eine ganze Schrankwand voll. Ein Liederbuch, dass ich Jahr für Jahr heraus holte. Unzählige Bücher über Pflanzen, Tiere und Kontinente, die du nie bereist hast. Das Vogelbestimmungsbuch Wer singt denn da? habe ich noch immer. Mutter erzählt, dass deine Leidenschaft für Bücher ein Streitthema zwischen dir und Oma war. Nach dem Krieg musstet ihr den Kredit für das Haus abbezahlen, das Geld war knapp und du gabst es für Bücher aus. Ich hätte dir gern den Buchladen gezeigt, den es bis vor ein paar Jahren um die Ecke gab: BÜCHER SIND LEBENSMITTEL stand in großen Leuchtbuchstaben an der Fassade. Ich glaube, das hätte dir gefallen.

So wie den Buchladen gibt es auch das kleine Haus mit dem großen Garten nicht mehr. Zuerst verschwand der Blick auf den Rhein, dann wurde das Haus verkauft und durch einen der vielen gesichtslosen Neubauten ersetzt. Ich bin seitdem nicht mehr dort gewesen. Meine letzte Erinnerung an dich ist der Gang vom Friedhof zum Mauerweg über dem Rhein. In den hohen Kastanien neben dem Friedhofstor flüsterte der Wind. Ich blickte nach oben und obwohl ich nur Äste und Blätter sah, war ich mir auf seltsame Art sicher, dass du es warst, dort oben, in einer der dunklen Baumkronen.

Als Mutter und P. das Haus ausräumten, bat ich um deine Sammlung von KOSMOS-Heften. Es waren Hunderte, in einem alten Rollschrank verstaut. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit anfangen würde, aber sie erinnerten mich an dich, mehr als alles andere. Vater lagerte sie gewissenhaft im Keller. So lange bis ich sie auf den eigenen Dachboden brachte. Inzwischen habe ich jedes deiner gesammelten Hefte in Händen gehalten. Ich habe die Werbung der 30er bis 80er Jahre belächelt, mich über wissenschaftliche Fragen gewundert, die heute längst beantwortet sind, habe Fotos von Menschen und Landschaften betrachtet, die es nicht mehr gibt und gestaunt über diese Brücke aus Papier zwischen gestern und heute, dir und mir.

Ob dir gefallen würde, was ich mit deiner Sammlung mache, bin ich mir, ehrlich gesagt, nicht sicher. Anfangs hatte ich Skrupel, wenn ich mit dem Cutter Landschaften heraus trennte oder mit der Schere fein säuberlich Menschen, Schmetterlinge und Vögel heraus schnitt. Wer weiß, wie teuer dir jedes Heft war? Inzwischen freue ich mich über dein Geschenk. Kann sein, dass ich ohne deine Sammlung nie begonnen hätte Collagen zu machen. Und jetzt träume ich von einer Ausstellung in einem alten Friedhofsgebäude der großen Stadt. Mit Bar, Musik und Blätterrauschen. Kastanien gibt es dort auch, bestimmt.

copyright: Ina Stachat