Dasselbe Meer

 

Das Meer hat die gleiche Farbe wie sonst auch im Herbst. Ein leises Blau, nicht so leuchtend wie im Sommer. Es ist schön wieder hier zu sein, auf der Insel, die uns in den letzten Jahren so vertraut geworden ist. Etwas Goldenes liegt in der Luft, die Olivenbäume hängen voller Früchte. Es riecht nach Kräutern, Salz und Erde.

Mein Blick wandert über den Saum der Küste. Die kleine Taverne ist geschlossen. Eine alte Frau sitzt am Strand und angelt mit einer Nylonschnur. Sand, große, rund geschliffene Steine, Treibholz, dazwischen schwarze Reifen, schlaffe Fetzen von Schlauchbooten, Schwimmwesten, schwarz oder grell orange, Plastikflaschen, hier und da ein Schuh. Etwas weiter entfernt eine Frau, die in einem angespülten Rucksack wühlt.

Ich lege mich zurück in den warmen Sand und schließe die Augen. Das Meer rauscht wie immer. Mein Körper ist warm und schwer, meine Hand gräbt sich in den Sand, findet wie von selbst Steine und glatte, braune Muscheln. Die Kinder werfen sich in die Wellen, ihre Stimmen hüpfen über das Rauschen des Meeres zu mir herüber.

Als ich mich aufsetze, ist die Anglerin verschwunden, auch am Rucksack ist niemand mehr zu sehen. Langsam wandere ich den Strand entlang. Den Blick gesenkt, kann ich die Gegenwart des Rucksacks dennoch deutlich spüren. Es ist ein graugrüner Armeerucksack mit Lederschnallen. Durchgeweicht und zerknautscht. Daneben zwei gefüllte Plastiktüten. Mein Blick zögert, wankt, kehrt zurück. Nagellack, Mascara, Kamm, ein feuchtes Haarband aus lilafarbenem Samt und ein Spiegel, ein kleines Viereck, in dem ich den Himmel sehe und – als ich mich zögernd vorbeuge – auch mein eigenes Gesicht.

Seit drei Tagen regnet es ohne Unterlass. Wir verkriechen uns im Haus, machen Feuer im offenen Kamin, lesen, spielen, schlafen viel. Vor der Tür maunzen die streunenden Katzen. Während wir abends fröstelnd auf der mit Plastikfolie verkleideten Terasse des Kafenion sitzen und heißen Tee trinken, schlagen die Wellen bis über die Uferstraße. Bei diesem Wetter wird hoffentlich niemand in einem offenen Boot über das Meer fahren.

Am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne. Wir fahren über die Berge an einen unserer Lieblingsorte, von dem aus die Türkei zum Greifen nah scheint. Das Lager aus Zelten in einer der Straßenkurven ist leer, aber je näher wir dem Meer kommen, desto zahlreicher werden die Spuren am Straßenrand: Kleidungsstücke, Schwimmwesten, dazwischen das Gold und Silber, der im Sonnenlicht funkelnden Überlebensfolien.

Als ich die Gruppe Männer sehe, die den Berg hinauf kommt, weiß ich sofort, wer sie sind. Es ist der Ausdruck ihrer Gesichter der mich überrascht, das Strahlen, das über der Erschöpfung liegt. Auf Englisch fragen sie uns nach dem Weg zum Camp und wir nicken eifrig: yes, yes, this way. Die süßen Kuchen vom Bäcker, die ich ihnen verlegen anbiete, nehmen sie nicht.

In dem kleinen Hafen liegen schwarze Schlauchboote neben den Fischerkähnen. Ein Mann räumt Schwimmwesten auf einen Haufen. In zwei größeren Booten, von denen die weiße Farbe blättert, steht das Wasser fast einen halben Meter hoch. Die Motoren sind verrostet und haben keine Abdeckung. In einem der Boote treibt ein rosa Schwimmflügel.

Unser Stammcafé hat geöffnet. An den Tischen sitzen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Sie tragen neongelbe Westen. Die meisten sprechen holländisch. Etwas weiter entfernt sehen wir Busse am Strand und ein ausgedientes Ausflugsschiff, das wie ein müder Wal, schief im Wasser liegt. Die Sonne wärmt. Wir trinken frisch gepressten Orangensaft und essen Pancakes. Das Wasser im Hafenbecken gluckst, ein leichter Geruch nach Fisch zieht zu uns herüber. Die Kinder streicheln die bettelnden Katzen.

Wie jedes Jahr machen wir eine Eseltour. Michali hat uns für den Nachmittag auf die Donkeyfarm bestellt. Die Kinder strahlen. In flottem Trab geht es auf die Küstenstraße. Nach ein paar hundert Metern treffen wir auf die erste Gruppe junger Männer. Parlez-vous francais? Est- ce que je peux faire un foto de vous? Einer von ihnen hält uns aufgeregt sein Handy entgegen. Auch die nächste Gruppe lacht und winkt als wir an ihnen vorbei reiten. Die Kinder finden, dass sie gar nicht wie Flüchtlinge aussehen. Mehrere Busse kommen uns entgegen. Be careful with your legs“ brüllt Michali. Hinter den Fenstern kann ich flüchtig die Gesichter von Frauen und Kindern erkennen, hier und da eine winkende Hand. Kurz vor dem Dorf ist die Straße mit einem Seil abgesperrt. Dahinter ist alles voller Menschen. Als ein junger Mann mit neongelber Weste Michali erkennt, öffnet er die Absperrung und winkt uns durch die Menge.

Überall stehen und sitzen Männer, Frauen, alte und junge, viele mit einem Kind auf dem Arm. Um sich vor dem Wind zu schützen, haben sie sich Überlebensfolien umgelegt. Mit ihren goldenen und silbernen Umhängen sehen sie aus wie müde Könige. Außer dem Klappern der Hufe und dem hellen Rascheln der Folien ist nichts zu hören. Die Sonne senkt sich leuchtend über das Meer. Ich wage kaum, den Blick zu heben, aber wegsehen will ich auch nicht. Also lächle ich. Und die Wartenden lächeln zurück. Manche streichen meinem Sohn über das blonde Haar. Als mein Esel vor einem Stück Goldfolie scheut, bückt sich ein älterer Mann und legt es zur Seite: „Bitte schön“, sagt er. Danke, sage ich, vielen Dank!

Wir haben die Kinder zu einer Wanderung überredet. Der Weg schlängelt sich über herbstliche Berghänge bis an die Nordspitze der Insel. Obwohl die Sonne scheint, weht ein kalter Wind. Die Sicht ist klar, sogar von hier oben können wir die weißen Schaumkronen auf dem Wasser erkennen. Die Kinder sind hungrig und quengeln nach Pizza. Zu müde, um noch in den Hafen zu gehen, setzen wir uns in ein Kafenion am Ortseingang. Ein Krankenwagen mit Blaulicht fährt vorbei. Vom Hafen her kommen kleine Menschengruppen die Straße entlang. Männer, Frauen und Kinder, in graue Decken gehüllt. Kein Gold.

Als wir mit dem Taxi am Camp vorbei fahren, ist der Platz völlig überfüllt. Hunderte Menschen stehen in einer Reihe und warten. Am Straßenrand kauern Frauen und Kinder neben der Leitplanke, der große Feigenbaum hinter ihnen ist über und über mit Kleidungsstücken behängt, die im Wind flattern. Vor dem orangeroten Abendhimmel sieht er aus wie ein Gespenst. Oder wie einer dieser Bäume, an die man Wünsche hängt.

Am Morgen hören wir, dass wieder ein Boot gekentert ist. Dreizehn Menschen sind im Meer vor Lesbos ertrunken, darunter viele Kinder.

Zwei Tage später steigen wir ins Flugzeug nach München. Von hier oben sieht das Meer klein aus und still, fast wie eine Pfütze. Dasselbe Meer.

copyright: Ina Stachat

Dieser Text entstand nach unserem letzten Urlaub auf der griechischen Insel Lesbos im Herbst 2015. Ich veröffentliche ihn im Rahmen der Blogparade „Europa und das Meer – was bedeutet mir das Meer?“ des Deutschen Historischen Museums im Zuge seiner gleichnamigen Ausstellung in Berlin. Die Blogparade läuft noch bis zum 25. Juli. Weitere Infos dazu findet ihr hier #DHMMEER. Und danke, Doreen für deinen Beitrag.